III. Der werdende Gott

Whiteheads Begriff der Kreativität hat zur Folie die Arbeit am Problem
des Panentheismus innerhalb der philosophischen und religiösen Spekula-
tion, die durch die Kabbala initiiert ist. Whiteheads Richtung auf Plato, die
Amnesie seiner Belesenheit religiöser und theologischer Literatur,110) könnte
als geglückte Kompensation der vom Panentheismus ausgehenden Bedro-
hung systematischen Denkens verstanden werden.
Während meine im vorhergehenden Kapitel vorgetragene Kritik an White-
heads Begriff der Kreativität deren ungezügeltes richtungsloses Wesen
zeigte, sollen nun zunächst die Quellen sprechen, von denen Whiteheads
Begriff der Kreativität lebt.

Das literarische Muster für diese Form der Verständigung mit Whitehead
ist das eines inneren Monologs: hier der Geschichte des Panentheismus mit
Whiteheads Vergessenwollen seiner religiösen Herkunft.
Whiteheads Gottesbegriff ist dem rationalistischen Panentheismus zuzu-
rechnen, dessen populärstes Unternehmen die Abschaffung des Bösen ist.
Emanation und Gnosis, die Vergöttlichung des Menschen, sind nicht wie
in der Mystik mit Teufel und Sündern verknüpft, sondern sind das Produkt
der Spannung zwischen dem Menschen und seinem Subjekt — nämlich
Gott.

Diese Gruppe der Panentheisten bezieht ihre kritischen Impulse aus Spino-
zas Philosophie, der diese Kehre zum Rationalismus am prägnantesten in
der Abhandlung über die Läuterung des Verstandes vertreten hat.111) Wer-
dender Gott und werdende Welt sind existent nur im Erkenntnissubjekt,
dem actual entity, das seinem Charakter nach subject-superject zu sein,
Ort der Geschiedenheit und Einheit von Gott und Welt ist. Whiteheads
Parteinahme für den rationalistischen Panentheismus erhellt aus seiner
Apologie des reformierten subjektivistischen Prinzips, das besagt, daß
Existenz an die Erfahrung des Subjektes gebunden ist, Gott somit existiert
in der Synthesis mit der Welt im Zusammenwachsen des event, das deren
Geschiedenheit zufolge der Distinktion in realitas formalis und realitas
objectiva selbst der Erfahrung zugänglich machen kann.
Das Gegenbild zeigt die große Gruppe der "ekstatisch-kathartischen" Kos-
mologien,112) die man auch als entfaltete Ambivalenz der Anagoge bezeich-
nen könnte. Diese Gruppe von Panentheisten begründet die Realität mittels
eines Konzeptes wechselseitiger Interpretation einer Kosmogenie und Theo-
genie. Werdende Welt und werdender Gott sind einander zureichender
Grund ihrer Existenz. Diese Theorien, wie etwa die Kabbala oder Jakob
Böhmes Mystik, können auf Anregungen Plotins zurückgeführt werden. In
diesem Zusammenhang kann von einer ungebrochenen Tradition des
"alexandrinischen Weltschemas"113) bis in die Neuzeit hinein gesprochen
werden.

 


Exkurs zur Mystik

In Ablehnung der monistischen Lösung des Gott-Welt-Verhältnisses in
Spinozas Ethik unterstreicht Whitehead die Affinität seiner Metaphysik
zur Tradition der altindischen und altchinesischen Philosophie.114)

Gerade sein Beharren auf der rationalen Fassung der Relation wechselsei-
tige Immanenz und Transzendenz verweist jedoch auf die tiefe Kluft zu
diesen Traditionen. Von Baso Do-ichi, einem der Begründer des Zen-Bud-
dhismus wird berichtet, daß er den Panentheismus seiner Religion nur mit
der Faust begreiflich machen konnte, daß er wie andere nach ihm auf dem
intuitiven Erfassen des verwickelten Verhältnisses von Gott und Welt be-
stand — mittels einer Didaktik der Gewalt. "Seine Art, Frager zu behan-
deln, war höchst revolutionär und originell. Einer davon war Suiryo ...
den der Meister niederschlug, als er ihn nach der Wahrheit des Zen
fragte."116) Es ist aber auch in Whiteheads Kosmologie eine Gewalt — zu-
gegeben sanfterer Art — am Werk.116)

Ich nehme als Beispielsatz, der die Suche nach verwandten Lösungen leiten
soll, das Diktum Daisetz Teitaro Suzukis, das die Beziehung von "Sho"
(Gott) und "Hen" (Welt) in den beiden ersten Stufen des "Go-i", der Stu-
fenleiter der Erkenntnis im Zen-Buddhismus prägnant ausdrückt: "Sie sind
eins, und doch behält jeder seine Individualität: Gott geht unendlich ins
einzelne, und die Welt der Einzelheiten findet sich an Gottes Brust ge-
schmiegt."117) Dieser Satz enthält alle Momente, die nach Robert C. Whitte-
more für den Panentheismus charakteristisch sind: "As a mean between
extremes, panentheism denies that God is totaly seperated from the uni-
verse (Deism), or absolutely identicaly with it (Pantheism). Contrary to
Christian orthodoxy (Theism), it asserts that God is with, but not before,
creation. Denying that a God of love can be immutable, it finds the purpose
of the universe to be the growth of God in Beauty and in Truth."118)

Ein Blick in die Philosophiegeschichte konfrontiert uns mit einer erstaun-
lichen Häufung von analogen Textstellen, bzw. Zitaten von großer Affinität
zur Relation "Sho chu hen" und "Hen chu sho" im Go-i.

Ähnliche Konzepte finden sich z. B. bei Plotin, Philon, Johann Scotus Eriu-
gena, in der jüdischen Mystik der Kabbalisten, bei Jakob Boehme, Paracel-
sus, aber auch im Katholizismus Franz von Baaders, bei K. C. F. Krause, der
den Begriff Panentheismus prägte, bei Lichtenberg, Hölderlin, und im
ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, als dessen Verfasser
man gerade wegen der panentheistischen Inspiration des Fragmentes lange
Zeit nicht Hegel sondern Schelling und später Hölderlin annahm.119) Die oft
überraschend gleichlautenden Formulierungen des Verhältnisses von Gott
und Welt in wechselseitiger Immanenz und Transzendenz beider mögen
sich den wenig erforschten Informationskanälen gerade der kabbalistischen
Mystik verdanken.120) Für Boehme und Paracelsus gilt dieser Einfluß als
gesichert.121) Die Rückverfolgung des Panentheismus über die französischen
Kabbalisten hin zu J. S. Eriugena und Plotin so wie der Einflüsse orientalischen
Denkens auf diesen bedarf jedoch noch weiterer Klärung.122) Goethes
Studium der Kabbala ist verbrieft.123) Schellings Lehre von Diastole und
Systole ist bereits im kabbalistischen Zimzum vorgebildet124) usf.
Die Reihe der vermuteten und erwiesenen Verbindungen zwischen den
panentheistischen Systemen nimmt für den Außenstehenden eine solche —
bereits panentheistisch zu nennende — Fülle an, daß er der Vermutung
Raum zu geben geneigt ist, es sei wohl wahrscheinlich, daß jede panenthei-
stisch konzipierte Theorie sui generis auf den Ausweg wechselseitiger
Immanenz und Transzendenz verfallen müsse, wolle sie sich nicht in den
Aporien von Deismus und Theismus verfangen.
Whitehead umgeht diese Tradition, aber wie seine Metaphysik zeigt, er
übergeht sie nicht.125) Er knüpft direkt an den Aporien in Platons Gottes-
begriff an und rühmt die Fortschritte hin zu einer Theorie wechselseitiger
Immanenz in den Anfängen des trinitarischen Gottesbegriffs des Christen-
tums.126) In diesem Vorgehen zeigt er sich allein an dem Grundmuster des
Panentheismus interessiert, etymologisierend gesprochen, an der Silbe "en"
des Wortes, nicht aber an dessen je historischer Ausgestaltung.
In der relevanten theologischen Binnenreflexion des Themas wurde von
Karl Barth folgender Problemstand erreicht: "Denn in dem Maß, als die
Reinheit der Mystik und des Atheismus zunimmt, als das Befreiungswerk
in bestimmten Individuen seinem Ziel entgegengeht, als diese wirklich oder
angeblich und vermeintlich in dem bei der ganzen Sache gemeinten Posi-
tiven zum Frieden kommen — in dem Maß wird ihre Aggressivität der
Religion und den Religionen gegenüber bestimmt abnehmen. Die ganz
großen "Gottesfreunde" und die ganz großen "Gottesgegner" haben sich
wohl schließlich alle mindestens zu einer Art Toleranz gegenüber der Reli-
gion durchgerungen und eben damit bezeugt, daß die Mutter die Tochter
nun einmal nicht ganz verleugnen kann."127)
Die gewichtigste und in Variationen die seitherige Geschichte der Lehre vom
werdenden Gott begleitende Kritik an der Konzeption wechselseitiger Im-
manenz und Transzendenz von Gott und Welt hat Kant in seinem Aufsatz
vom Ende aller Dinge vorgetragen: Kants polemisches Argument, daß der
Panentheismus die Versöhnung des Menschen mit seinem Tode auf Kosten
einer Versöhnung der Lebensführung mit der Vernunft betreibe, richtet
sich in ihrer aufklärerischen Diktion gegen das allen Ausformungen des
Panentheismus gemeinsame Konzept wechselseitiger Immanenz und Trans-
zendenz Gottes und der Welt. Es impliziert sowohl eine politisch motivierte
Kritik an einem Subjektbegriff, der Verantwortung für rationales Handeln
an die Totalität delegiert, als auch eine religionssoziologisch begründbare
Kritik Kants an einer Auffassung von der Erlangung ewiger Glücksseligkeit,
die der des im Zeitalter der Aufklärung aufstrebenden Pietismus diametral
entgegensteht. Die eindringlich von Kants Zeitgenossen Karl Philipp Moritz
beschriebenen Einflüsse pietistischer und quietistischer Frömmigkeit auf die
Psyche128) und, wie Max Weber zeigte,129) auf die Einstellung des Indivi-
duums zur Naturaneignung, zielen auf die permanente Unruhe des Erkennt-
nissubjektes, wie auf die Unrast des handelnden Individuums.

Der Pietismus wird zum Verbündeten der Aufklärung durch seine glück-
liche Verbindung einer stets wachen Hinwendung zur Diesseitigkeit, die
Askese und Tüchtigkeit zugleich fordernd fördert, mit der Ungewißheit
einer sehr persönlichen Offenbarung, die das Individuum zum ständigen
Bereitsein, zum permanenten Beweis der Würdigkeit zwingt.
Kants Panentheismus-Kritik ist vor diesem Hintergrund auch als Beitrag
zur Apologie der dem aufstrebenden Bürgertum adäquaten theologischen
Position einer pietistischen ecclesiola zu sehen, zu der im Vergleich sich die
panentheistische Geborgenheit des Menschen in der Natur wie in Gott in
der Tat wie eine Grabesruhe ausnehmen mußte.

Zuerst referiert Kant das pietistische Problem des ständig in der Bewährung
stehenden Menschen vor Gott und der eignen Glückseligkeit: "Wenn wir
den moralisch-physischen Zustand des Menschen hier im Leben auch auf
dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens und
Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: so kann er
doch (selbst im Bewußtsein der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung) mit
der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes (des
sittlichen sowohl als des physischen) die Zufriedenheit nicht verbinden.
Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, ver-
gleichsweise gegen den besseren, in den zu treten er in Bereitschaft steht."130)
Der "Endzweck", auf den zu, in der Angst ihn zu verfehlen, der Kampf
gegen das Böse, wie die eigene Würdigkeit in den Werken betrieben wird,
ist im Panentheismus der Mystik verlockend bereits in jeder alltäglichen
Erfahrung antizipierbar.

Kant betont diese Versuchung durch die Mystik, nicht ohne sein eigenes
Programm der Kritiken nachhaltig zu empfehlen: "Darüber gerät nun der
grübelnde Mensch in die Mystik (denn die Vernunft, weil sie nicht leicht
mit ihrem immanenten, d. i. praktischen Gebrauch begnügt, sondern gern
im Transzendenten etwas wagt, hat auch ihre Geheimnisse), wo seine Ver-
nunft sich selbst und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt,
als sich, wie es seinem intellektuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt,
innerhalb der Grenzen dieser eingeschränkt zu halten."131) Nach einem
Seitenhieb auf Meditationspraktiken asiatischer Religionen ("sinesische
Philosophen sich in dunklen Zimmern, mit geschlossenen Augen, anstren-
gen, dieses ihr Nichts zu denken und zu empfinden"),132) spricht er sowohl
dem ekstatisch-kathartischen wie dem — in dieser Untersuchung so genann-
ten — rationalen Panentheismus die Vernunft ab: "Daher der Pantheism
(der Tibetaner und anderer östlichen Völker); und der aus der metaphysi-
schen Sublimierung in der Folge erzeugte Spinozism: welche beide mit dem
uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer
endlichen Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert sind. Alles ledig-
lich darum, damit die Menschen sich endlich doch einer ewigen Ruhe zu
erfreuen haben möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller
Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem ihnen zugleich der Verstand
ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat."133)

Whiteheads Gottesbegriff vermag durchaus an dieser Kritik gemessen zu
werden, hat er doch weit über das metaphysische Konzept des Panentheis-
mus hinaus gehend seinen Gottesbegriff der protestantischen Theologie zur
Prüfung empfohlen: "Ich meine, daß die protestantische Theologie als
Grundlage eine Interpretation des Universums entwickeln sollte, durch die
seine Fülle von Verschiedenheiten umfassende Einheit begriffen wird."134)
Was der pietistisch erzogene Kant dem puritanisch inspirierten Metaphy-
siker Whitehead in der Kontinuität der protestantischen Theologie vorzu-
werfen hätte, sind drei den whiteheadschen Kreativitätsbegriff betreffende
Punkte:

— Jeder Panentheismus sprengt die Grenzen innerhalb derer die Vernunft
ihre Voraussetzungen überprüfen und so — mit Blick auf die Kritik der
reinen Vernunft — zwischen synthetischen und analytischen Urteilen zu
unterscheiden lernt.

— Jeder Panentheismus trennt Subjekt der Erkenntnis und deren Katego-
rien so radikal, daß diesem "der Verstand ausgeht und alles Denken
selbst ein Ende hat".

— Die "Geheimnisse der Vernunft" werden von dieser in aufklärerischer
Absicht auf das Erkenntnissubjekt ausschließlich bezogen entschleiert.
Vernunft von Erkenntnis zu trennen, bringt jeden Erkenntnisprozeß in
die Nähe der Meditation. Im Panentheismus nimmt bereits die Erfahrung
die Stellung der Erkenntnis ein, da die Erfahrung die Kriterien aus dem
panentheistisch verwobenen Kosmos ins Subjekt nachträglich trans-
feriert.

Erkenntnis kann so nur als Korrektur, wenn nicht als Auflehnung gegen
die je schon kategorialisierte Erfahrung verstanden werden, in der der
werdende Gott wie die werdende Welt repräsentiert sind.


Exkurs zur Stellung des einzelnen im Kosmos

Der asketische Zug des spinozistischen Panentheismus wird in dieser Kritik
am kantischen Antieudämonismus pietistischer Prägung135) gemessen und
als — im kantischen Sinne — unkritisch verworfen. Die Wendung der Ver-
nunft ins Objektive, die mit Hegels Kantkritik wieder einsetzte, aber im
Panentheismus vorgebildet ist, vermag Kant nicht nachzuvollziehen. Seine
kopernikanische Wende erscheint als das, gemessen an den Freiheitsansprü-
chen des einzelnen, fortschrittlichere Philosophem die Unsicherheit eines die
Kategorien selbst antastenden Werdens nicht anzuerkennen.
Bereits im ekstatisch-kathartischen Panentheismus ist dieser radikale Zug
der Veränderung vorgebildet. Bei Jakob Böhme, z. B. bedeutet das kabbali-
stische Motiv der androgynen Urmenschen,136) daß diese zufolge ihrer
undifferenzierten Einheit distinkte Kategorien nur a posteriori, in ihrer
Entzweiung also, und somit nicht dem menschlichen Verstand inhärierend,
besitzen. In ihrer Prä-existenz ist alles in Allem unterschiedlos. Der ratio-
nalistische Panentheismus hat hieraus die Konsequenz der Ablehnung von
Kosmogenie und Theogenie gezogen. Die Theoriebildung schränkt sich auf
die Kritik der Erfahrung des Werdens ein, zeigt sich an der Frage nach einem
ursprünglichen, dem Subjekt konstitutiv vorausliegenden unterschiedslosen
Einssein wechselseitiger Immanenz und Transzendenz desinteressiert, denn
Descartes' Forderung nach Klarheit und Distinktheit in der Theoriebildung
entzieht der Mystik die zwar rational begründbare, aber irrational verwen-
dete Argumentationsbasis, die Freiheit des einzelnen sei Einheit mit Gott
und dem Kosmos und Determination sei konstitutiv für Indetermination
qua Bescheiden in die Determination.

Franz von Baader steht in seiner Rezeption der Mystik noch in dieser Span-
nung, die objektiv historische Gegenbewegung von Gott und Welt der
Mystik mit dem rationalistischen Subjektbegriff zu versöhnen.
"Das Geheimnis der Cabbala dreht sich um das Verhalten der androgynen
Zeugung zu der Zeugung durch zwei getheilete Geschlechter, oder der unge-
schiedenen und geschiedenen Natur. — So viel sehe ich wohl ein, daß jede
Wirkung (z. B. Ich als hervorgebracht) nur ein Gezeugtes ist, was nur zur
Folge einer Befruchtung eines Vermögens (Recipiens) durch Kraft (mas —
Vater etc.) hervorgeht — und da zwar das Vermögen nicht aber die Kraft
unser ist, so kommt hier sogleich zum Vorschein, warum wir mit den Mor-
genländern von der dritten Person in allen Conjunktionen ausgehen."137)
In dieser Kabbala-Interpretation ordnet Baader das Ich der Natur zu, an-
deutend, daß ein Begriff vom Ich der — mystisch formuliert — Zeugung
durch "getheilte Geschlechter" entspringe. Aber nicht nur das Subjekt, auch
dessen anaytischen Fähigkeiten verdanken sich dieser Unvollkommenheit
der entzweiten Natur: "Um aber diese Naturwahrheit völlig zu fassen, ist
es nothwendig, sich davon zu überzeugen, daß aller Technicismus des
Gliederns oder Organisierens die Folge oder Gezeugtes eines männlichen
und weiblichen Princips sei, was sich sowohl im Äußeren als im Inneren
(gleichsam dem Wuchs des Gemüths) leicht zeigen läßt."188) Nicht nur die
Dipolarität aller Begriffe in Whiteheads Metaphysik, die "opposites" finden
sich hier vorgebildet, sondern auch deren a priori, die Kreativität, ist ange-
deutet im "Geheimnis der Cabbala", dem Verhalten der "androgynen Zeu-
gung durch zwei getheilte Geschlechter".

In beiden Formen des Panentheismus kann das Subjekt sich nicht aus der
Welt lösen. Es kann nicht die kartesische Position einnehmen. Am prägnan-
testen hat Hans Grunsky diesen durchgehenden Zug der Geschichte des
Panentheismus gefaßt: "Man könnte nämlich sagen, die existenziell schlecht-
hin wichtigste Entscheidung hänge an einem winzigen Bindestrich, denn sie
gehe darum, ob der individuelle Wille aus der ALL-EINHEIT oder aus der
ALLEIN-HEIT heraus zu leben sich erwähle."139)
Isolation im Allzusammenhang wird so im ekstatisch-kathartischen Panen-
theismus zur Sünde. Der Abfall von Gott durch den Menschen oder gar
die Rivalität zu Gott durch den Teufel im rationalen Panentheismus wird zur
Quelle aller Irrtümer. Zugespitzt: Ein autonomes Subjekt wäre ein konfuses
Subjekt, ein heteronomes Subjekt ein fusionierendes Subjekt.
Auf die Unmittelbarkeit dieses Verhältnisses in der mystischen Praxis weist
Bergson hin: "Schon in der Mystik, die bei der Ekstase, das heißt bei der
Kontemplation stehenblieb, war ein gewisses Handeln vorgebildet. Man
fühlte, kaum daß man vom Himmel auf die Erde herabgestiegen war, das
Bedürfnis, hinzugehen und die Menschen zu lehren."140)
In "Sechs theosophische Punkte" beschreibt Böhme die Psychologie des
Selbstbewußtseins als pathologische Hybris. "Eine jede Gestalt verleugnet
sich selber, und saget je eine zu der anderen, sie sei böse und ihr wider-
wärtig, sie sei eine Ursache ihrer Unruhe und Grimmigkeit: eine jede ge-
denket in sich, wäre nur die andere Gestalt nicht, du hättest Ruhe; und ist
doch eine jede böse und falsch."141) Unversehens zeigt sich der Mystiker
hier als exakter Beobachter und Analytiker eines menschlichen Verhaltens,
das die Psychoanalyse als den Zusammenhang neurotischer Ängste mit
deren paranoider Verarbeitung, der Projektion der "Unruhe und Grimmig-
keit" auf andere, kennt, die so zur personalisierten Ursache der bedrohlich
empfundenen eigenen Krise werden.142)

Der Weg aus der All-einheit in die Allein-heit ist der der Lüge. Lüge ist
jedoch kein an der Wahrheit direkt per Negation gewonnener Begriff, son-
dern das gegen das Einheitsstreben der Natur in Gott gerichtete menschliche
Verhalten. Böhmes Psychologie des Selbstbewußtseins verfährt deskriptiv
und ätiologisch. "Daher kommts, daß alles, was aus der finsteren Grimmig-
keit erboren wird, lügenhaft ist und immer die anderen Gestalten anleugt,
daß sie böse sind: und ist sie doch eine Ursache daran, sie macht sie bös mit
ihrer giftigen Infizierung. Also sind alle, und ist Lügen ihre Wahrheit: wenn
sie Lügen reden, so reden sie von ihren eigenen Gestalten und Eigenschaf-
ten."143) Wie die experimentell-psychoanalytisch orientierte Gruppendyna-
mik unterstreicht auch Böhme den fanatischen Zug des Bösen.144) Dieser ist
irrational, operiert aber mit der ihm eigenen Ratio der Vorurteile, die die
Stelle von Urteilen okkupieren, in "finsterer Grimmigkeit", die die egozen-
trierte Wahrheit der Lüge auszeichnet.

Für den "genialen Gnostiker" Böhme145) stellt sich das Problem mangelnder
Sensibilität und Offenheit für neue Erfahrungen nicht erkenntnistheoretisch
dar. Er löst es durch eine Theorie vergleichbar der "Extemalisierung des
Bösen, d. h. . . . Projektion auf andere Gruppen (.Fremde')"146) in der Grup-
pendynamik. Dem liegt bei Böhme die Annahme einer Entzweiung auf dem
Wege zur gnostischen Einheit zugrunde. Als Lernprozeß, der den Abfall des
Menschen von Gott rückgängig machen soll, ist Erkenntnis zugleich die
Reunion der unvollkommenen menschlichen Einsichten, ist sie auf Kommu-
nikation gegründet.

Ständig gefährdet durch Gottes Gegenspieler zerfällt die Kommunikation
der vom Bösen "Infizierten" in die unendliche Reproduktion des Abfalls des
Teufels von Gott.

Dem Selbstbewußtsein kommt im ersteren Fall eine integrative, sich in der
Synthesis neuer Erfahrungen mitverändernde Funktion zu. Es ist der Ort in
der Welt, der das Göttliche des Menschen rehabilitieren kann, indem das
Menschliche kritisiert wird. "Du dörfftest deine Augen nicht Erst in Him-
mel Schwingen Den es sthed geschriben Das Wortt ist dir Nahe nemlich
auff deiner lippen und in deinem Herzen, etc."147)

In der zerstörten Kommunikation besorgt die projektive Verarbeitung die
Zementierung einer starren Ich-Identität.148) Diese ist nicht an sich das
Böse. Sie wird das Böse in der Weise, in der sie den göttlichen Lernprozeß
von sich fernhält, sie setzt dem entgrenzenden Prinzip die Grenze entgegen.
Die Hervorhebung der Bedeutung von Identitätskrisen für Lernprozesse
kommt zwar der platonischen Dialektik zu, findet jedoch hier ihre Bindung
an ein universal in jeder Erfahrung via emanationis präsentes Ziel. Un-
trennbar verbunden mit dieser Teleologie ist aber ein Hegemoniestreben
Gottes, das die göttliche Strafe nicht zeitlich von der falschen Erkenntnis
trennt, sondern ihr inhärierend jede "Unruhe und Grimmigkeit" sofort dem
Teufel zuschlägt. Jede Entzweiung straft sich selbst.
So kann Julius Hamberger Böhmes mystische Bilder vom Sündenfall durch-
aus in die Termini des rationalen Panentheismus übersetzen: "Der Wider-
spruch ... löset sich ganz einfach, wenn man nur das Wechselverhältnis
nicht übersehen will, in welchem das Wesen des Menschen und der Baum
der Versuchung zueinander stehen. Im Willen des Menschen liegt allerdings
der Grund der Existenz des Baumes der Versuchung, in letzterem aber auch
wieder der Grund der Materialisierung des Menschen."149) Diese Doppe-
lung des principiums rationis sufficientis begründet die Kohärenz des Guten
und des Bösen bereits im Sündenfall.

Verbunden mit dieser Vorstellung des Wechselverhältnisses ist ein bereits
an Whiteheads Zeitquanten gemahnender Begriff, den Hamberger "Zeit-
lichkeit" nennt. Zeit ist hierbei als die Bewegung der Gnosis zu verstehen,
Stiftung der Zeit als Emanation.150)

Böhme scheint Zeitlichkeit als Geburt zu verstehen: "Den du kanst keinen
ortt weder Im Himmel Noch in diser weld er Nennen da die Götliche geburtt
nicht also Sey Es Sey gleich in einem Engel und heiligen Menschen oder
auser den Selben Wo ein quel Geist in der Götlichen krafft gerüged wird
die stette Sey gleich wo Sie wolle."151) Dieser Totalität der Zeit stiftenden
Theogonie entspricht die Erfahrung der Welt durch Gott, für die Böhme
eindringliche Anthropomorphismen findet: "An allen Enden und In allen
dingen Und auff eine Solche weise ist Gott Ein Almechtiger Alwissender
AI Sehender Alhörender AI Rüchender Alschmeckender Alfülender Gott
Der über al ist und der Creaturen Hertzen und Nürren Prüfed."162) Diese
Vorstellung eines die geschaffene Welt, d. h. die aus Gott geborene Welt,
auf Herz und Nieren prüfenden Gottes deutet die Einheit der Welt in der
göttlichen Erfahrung, die Disparatheit der Welt aber in Gottes Geburt durch
seine sieben Quellgeister. Die Kontiniutät dieses Prozesses stiftet Gott in
der geordneten Emanation und omnipräsenten Erfahrung.

Mit Ernst Ludwig Dietrich kann deshalb davon ausgegangen werden, daß
für die Kabbala und Jakob Böhmes Mystik "das androgyne Motiv . . . zur
Form des Denkens selbst geworden" ist.153) Entzweiung und Zwang zur
Einheit, die beiden Grundbewegungen mysti-scher Spekulation, bedürfen
sowohl des Bildes einer ursprünglichen Einheit, als auch des Verbotes auf
eine beider Seiten die Emphase zu legen, dennsonst würde die Bedeutung,
füreinander zureichender Grund zu sein, welcher sich der ursprünglichen
Einheit verdankt, verloren gehen.
Die Kehre zur Epistemologie, die den ekstatisch-kathartischen Panentheis-
mus von der wechselseitigen Immanenz und Transzendenz zweier Bewe-
gungen, der Genesis Gottes und der Welt hinführt zur Reflexion der durch
beide Bewegungen bestimmten Erkenntnismöglichkeiten des Subjektes,
kann somit als Wende einer genetisch gedoppelten Lehre vom Zusammen-
hang aller Dinge und Ideen zu einer ontologisch-dyadischen Theorie dieses
Zusammenhanges gesehen werden. Letztere stellt sich als Kritik der erste-
ren dar. Diese Ontologie aber nimmt die Dynamik des werdenden Gottes in
die Aktualität, nimmt die Anfang und Ende der Weltgeschichte als Heils-
geschichte umspannende Anagoge in der Erfahrung derselben auf. Dadurch
bleibt zwar jede Erfahrung in den Allzusammenhang als einzelne inseriert,
wird jedoch einem Ich entgegen gestellt, das Dauer beansprucht, hierin erst
die Trennung von Subjekt und Objekt begründend.
In seinen Reflexionen der "Generirbarkeit des Bösen in uns"154) hat bereits
Franz von Baader dieses Argument der Mystik gegen Kant gekehrt. 1796
eröffnet er Jacobi in einem Brief, "Noch finde ich eine Lehre in der Cabbala,
die allein schon den Kant'schen Idealismus niederwürfe, falls man sie ge-
hörig durchführte."155) Denn: "Das, was ein Ding zu Etwas (real) macht,
ist seine Einheit (unum quid) nicht der Stoff (das Vielerlei der Sinne), son-
dern die Einheit ist das Reale, die Einheit ist aber bloß vernehmbar, nicht
sinnlich, und alle Realität ist also esoterisch mithin gegeben."156)

Das für Whiteheads Kosmologie entscheidende und als Kreativität charak-
terisierte permanente Zusammensein von Immanenz und Transzendenz
sieht Baader bereits in der Mystik der Kabbala und Jakob Böhmes vorge-
bildet. Hierin zeigt sich Baaders vermittelnde Stellung zwischen ekstatisch-
karthatischem und rationalem Panentheismus: Er schätzt die Kabbala ein,
als "den Torso der ältesten Naturphilosophie in einer Wüste, von Schutt
und Ameisenhaufen späterer (besonders Talmudistischer) Grübeleien über-
baut."157)

Neuere Forschungen, besonders die Gershom Sholems, der auf "De Divi-
sione Naturae" des Johann Scotus Eriugena als Quelle der "technischen
Sprache dieser neuplatonischen Texte der Kabbalisten im Hebräischen"158)
hinweist, rechtfertigen Baaders Kabbala-Studium.
Kants Argument verlangt aber unsere Aufmerksamkeit, insofern es dem
rationalen Panentheismus seine Grundlage, den Rationalismus seiner The-
sen, bestreitet. Kant stellt das Problem ganz im Sinne seines kritischen
Unternehmens: Ist die Kehre der Mystik in Erkenntnistheorie nicht bereits als
im Ansatz gescheiterte anzusehen? Verliert sich nicht jener Punkt, von
dem aus Kritik sinnvoll, d. h. praktisch werden kann, das Selbstbewußtsein
als ein Wissen um die Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft, im Panen-
theismus in das unendlich Kleine des Mikrokosmischen oder ins unendliche
Große der Geschichte des Makrokosmos.159) Brechen in der Konstruktion
des Mikrokosmos und Makrokosmos nicht wieder die alten anagogischen
Vorstellungen hervor, die qua Emanation des Logos jeden Teil der Natur
wissend und qua Gnosis jeden Teil der Natur erkenntnisbegierig machen?
Die auf die Exklusivität des transzendentalen Erkenntnissubjektes gegrün-
dete Sicherheit im Urteilen ginge verloren.

Der Einschätzung des Bewußtseins, der Möglichkeit einer rationalen und,
wie Kant unermüdlich betont, weisen Durchsetzung der Vernunft in der
Geschichte durch den Menschen, steht Whitehead seltsam unentschieden
gegenüber.

Zwar hat er in Function of Reason eindrucksvolle Bilder für die Ratio ge-
funden, Ulysses und Plato, in Process and Reality aber unterstreicht er das
Zu-spät-kommen der menschlichen Vernunft gegenüber der objektiven Ver-
nunft der sich gegenseitig korrigierenden Aspekte der Realität, Gott und
Welt.

"Conscoiusness flickers; and even at its brightest, there is a small focal
region of clear illumination, and a large penumbral region of experience
which tells of intense experience in dim apprehension. The simplicity of
clear consciousness is no measure of the complexity of complete experience.
Also this character of our experience suggests that consciousness is the
crown of experience, only occasionally attained, not its necessary base."160)
Dies findet seinen Ausdruck u. a. in der Feststellung in Symbolism, die
Wahrnehmungsweise der causal efficacy dominiere in der Natur, die der
presentational immediacy aber sei in reiner Form eine Ausnahmesituation
menschlicher Erkenntnis.161)

Abgesehen von derjenigen eudämonistischen Variante des Panentheismus,
die aus dem Allzusammenhang das Glück der Gemeinsamkeit ableitet,162)
ein Motiv, das bei Whitehead als solidarity wiederkehrt,163) zeigt dessen
durchgehend asketischer Zug, daß Fortschritt, in der Emanation oder Gnosis
oder im rationalen Panentheismus mit Triebverzicht verbunden ist. Dieser
Triebverzicht wird jedoch durch ein hohes Maß an Freiheit in der Erkenntnis
und Religionsausübung kompensiert. Denn die panentheistische Verwoben-
heit der Welt mit Gott läßt keinen autoritären, über einer hierarchisierten
Welt herrschenden Gott zu.

Im Gegensatz zum jüdischen, katholischen und protestantischen Gottes-
begriff weist der Panentheismus in allen seinen Varianten auf den sich hin-
gebenden Gott, er ist nur in seinen Werken, der Totalität des Realen und
nur dort zu erkennen.164) Spinozas Konsequenz aus dieser Existenz Gottes
war sein Substanzbegriff. Whiteheads Konsequenz ist die radikale Ableh-
nung der Substanz als adäquatem philosophischen Terminus. Spinoza betonte
innerhalb der Kontinuitätsaporie das Element des Dauerns der Sub-
stanz als Konstituens für die Realität, Whitehead das des ständigen Ver-
änderns.

Kants Panentheismus-Kritik bedarf demnach einer Revision: die Frage nach
der Instanz selbstbewußter Kritik beantwortet auch Whitehead mit dem
Hinweis auf den Menschen, dieser erhält als komplexes Zusammengesetztes
diese Fähigkeit bruchlos aus den ihn konstituierenden Teilen. Lediglich die
Fähigkeit zur Reproduktion zeichnet dieses Ich vor anderen actual entities
aus. Diese Fähigkeit zur Kontinuität ist ständig gefährdet, ein Stein be-
herrscht sie weit besser als ein menschliches Erkenntnissubjekt.165) Der Ver-
such der Kontinuitätsstiftung kann unter diesen Vorzeichen nur gelingen,
wenn das selbstbewußte Subjekt gegenüber der Natur keine Sonderstellung
einnehmen kann, sondern sich als Ort kreativer Einheit versteht.166)

Kant hat in seiner Abwehr von Emanation und Gnosis Gott aus der Welt
ausgesperrt. Whitehead hat in der konsequent rationalistischen Transfor-
mation von Theogenie und Kosmogenie in die Kosmologie das Gleiche dem
Teufel besorgt. Wo keine Möglichkeit, dem Einheitsstreben der Kreativität
zu entgehen, dort keine Isolation aus dem Allzusammenhang. Diese Weiter-
entwicklung des ekstatisch-kathartischen Panentheismus vor dem Hinter-
grund eines metaphysisch orientierten Protestantismus schlüge Brücken zu
allen die monarchotheistische Gottesvorstellung überwindenden Religionen,
wäre nicht mit der systematisch durchgeführten Negation des radikal Bösen
als autonom der Welt der Dinge entgegenstehendem Subjekt das Problem
der Mystik in fataler Weise reformulierbar: reproduziert das Verhältnis
der Kreativität zur Wechselwirkung von Gott und Welt nicht die Vorstel-
lung des Johann Scotus Eriugena von den causae primordiales? Liegt die
unendliche Potenz des posse fieri nicht auch dem Gottesbegriff ontologisch
voraus, als durch keine komplementäre Instanz in das Gott-Welt-Verhältnis
von wechselseitiger Immanenz und Transzendenz involvierte kosmologische
Kreativität. Hat nicht gerade die im Nationalsozialismus pervertierte und
groteskerweise durch die jüdische Mystik überlieferte Vorstellung des wer-
denden Gottes gezeigt, was es bedeutet, Kreativität als unbändige zu ent-
fesseln?167)

 

 

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